Ringvorlesung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dienstags 18:00-20:00
Campus Westend, Theodor-Adorno-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, Hörsaalzentrum HZ 3
Organisiert von Prof.'in Dr. Mechthild Fend Dr. Mechthild Fend und Dr. Ulrike Kern
Die Vorlesungsreihe stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kunstgeschichte und der Wissens- und Industriegeschichte der Farbe. Von besonderem Interesse ist dabei die Farbproduktion in der ehemaligen IG Farben (im Volksmund auch ‚Rotfabrik' genannt), in deren Verwaltungsgebäude heute Teile der Goethe-Universität untergebracht sind. Die Höchst-AG spezialisierte sich auf die Entwicklung und Herstellung synthetischer Farben und produzierte als erste chemische Fabrik künstliches Indigo. Die Ringvorlesung knüpft an die jüngste Forschung an, die sich neben der sich wandelnden Semantik der Farbe verstärkt auch dem historischen Farbwissen sowie der materiellen Kultur von Pigmenten und natürlichen wie synthetischen Färbemitteln zugewandt hat. Außerdem fragt die Vorlesungsreihe nach dem Verhältnis von Körper und Farbe, insbesondere der Verschränkung von künstlerischem und naturgeschichtlichem Wissen von der Hautfarbe.
26.04.2022 | Esther Leslie, Birkbeck College London Red Green Blue: IG Farben's Chemical Colours and the Contamination of Everything | ||
3.05.2022 | Giulia Simonini und Friedrich Steinle, TU Berlin Farbtheorien des 18. Jahrhunderts und die Grundfarbe Rot in der Dreifarbenlehre | ||
10.05.2022 | Ad Stijnman, Amsterdam Wahre Farben: Jacob Christoff Le Blon und Jan L'Admiral – technische Aspekte des Dreifarbendrucks | ||
24.05.2022 | Melissa Hyde, University of Florida, Gainesville Men in Pink | ||
31.05.2022 | Karin Leonhard, Universität Konstanz Die Erweiterung der Palette. Künstler im Labor 1580-1680 | ||
14.06.2022 | Kirsty Sinclair Dootson, University of St Andrews Skin, Colour, and Sensitivity: The Racial Histories of Chromatic Cinema | ||
28.06.2022 | Carole Biggam, University of Glasgow Blue in Early English: A Most Elusive Concept | ||
12.07.2022 | Ben Pollitt, The Courtauld Institute, London Colour, Climate, Weather (1770-1870) |
Entworfene Ordnungen
Designed Orders
The architectural design process aims to create new orders and at the same time is, itself, structured by its practical, technical, social, and legal frameworks. The lecture series in the 2022/2023 summer and winter semester traces this double relation. Each design imagines the future and represents an attempt to create a new spatial – and thus always social – order. This projective access to the unknown and unthought places planning conventions, construction standards, legal requirements and established architectural, urbanistic and social ideas in relation to each other rethinks them, and makes them dynamic. The lecture series asks how design structures the interaction of these different and heterogeneous factors and what roles the conditions, norms, and tools of design play. While the series of lectures in the summer semester explores the question of how order comes about in the design process, the second half of the year examines the interrelationship between design processes and their specific design objects.
The lecture series will take place in the summer semester in hybrid mode (presence and via Zoom) on the Westend campus of Goethe University Frankfurt.
Die Veranstaltungsreihe findet im Sommersemester im Hybridmodus (Präsenz und via Zoom) auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt an folgenden Terminen statt:
21.04.22, 18:00 s.t.
CLAUDIA MAREIS (Humboldt-Universität Berlin)
»Kombinatorische Kreativität: Entwerfen und Erfinden zwischen Ordnung und Kontingenz«
05.05.22, 18:00 s.t.
LIONEL DEVLIEGER (Ghent University, RotorDC)
»Assembling Fragments: Designing with Salvaged Building Components«
02.06.22, 18:00 s.t.
NATHALIE BREDELLA (Karlsruher Institut für Technologie) mit NICK FÖRSTER (Technische Universität München) und BENJAMIN BEIL (Universität Köln)
»Tools of Play: Planungsstrategien der Metastadt«
07.07.22, 18:00 s.t.
HAUKE HORN (Universität Mainz)
»Eine Frage des Geldes? Immobilienwirtschaft und Kommunalpolitik als ordnende Kräfte bei Planung und Bau von Bankhochhäusern in Frankfurt a. M.«
>Ausnahme: Der Vortrag am 07.07. findet im ExNo-Gebäude, Raum EG.01 statt.
Semesterschwerpunkt im Sommersemester 2022
Semesterschwerpunkt im Wintersemester 2021/2022
Lesekreis - Fachbereich 09 - Kunstgeschichtliches Institut
Ausgangspunkt der diesjährigen documenta ist das Konzept von lumbung. Das Kollektiv ruangrupa bezieht sich dabei auf den aus dem Indonesischen übersetzten Begriff „Reisescheune“, welche in ländlichen Gebieten Indonesiens gemeinschaftlich genutzt werden, um nachhaltig Ernte zusammenzutragen, zu lagern und zu verteilt. Dabei stehen Fragen nach sozialer Teilhabe, Verteilungsprozessen von Ressourcen, Wissen und Nachhaltigkeit im Vordergrund.
In diesem Lesekreis möchten wir uns mit dem Trend der Kollektiven und des gemeinschaftlichen Arbeitens in zeitgenössischen Kunstdiskursen auseinadersetzten. Zunächst sollen historische Kontexte gemeinschaftlichen Arbeitens in der Kunst besprochen werden. Bereits die Kunstproduktion der 1960er Jahre bietet durch das Aufkommen feministischer Künstler*innenkollektive und anti-rassistisch aktivistischen und künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum einen Ausgangspunkte dafür. Daraufhin diskutieren wir aktuelle theoretische Positionen und nähern uns dem Themenfeld aus postkolonialen, feministischen sowie queeren Perspektiven. Dies soll als Grundlage dienen, um in einem letzten Schritt konkrete zeitgenössische künstlerische Positionen näher zu betrachten.p>Neben kunsthistorische Texte, wie etwa Nicolas Bourriauds Begriff der Relationalen Ästhetik, werden auch Referenzen aus der Soziologie, Philosophie und den Queer- sowie Postcolonial-Studies herangezogen. Darunter Judith Butlers Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung oder Silvia Federicis Auseinandersetzung mit den Commons.
Die konkrete Literaturliste soll gemeinsam in der Gruppe gestaltet werden. Der Lesekreis wird zweiwöchentlich (voraussichtlich in Präsenz) stattfinden.
Kennenlernrunde: Mi, 20.04., 16:00 - 17:30 Uhr
Ort: Wird noch bekannt gegeben
Kontakt: radiasoukni@stud.uni-frankfurt.de
Léa Kuhn
Kunstgeschichte wird nicht nur geschrieben, sie wird auch gemalt. Dass auch innerhalb der Malerei vermehrt kunsthistorische Ordnungsmodelle entwickelt werden, sobald sich die Kunstgeschichte als akademische Disziplin zu etablieren beginnt, zeigt diese Studie.
Mit Blick auf die Zeit um 1800 rekonstruiert die Autorin das feine Bezugsgeflecht zwischen entstehendem Kunstgeschichtsdiskurs und zeitgenössischer künstlerischer Praxis an so unterschiedlichen Orten wie Zürich, Paris, London und New York. Dabei wird deutlich: Die hier analysierten Werke von Marie-Gabrielle Capet, William Dunlap und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein illustrieren nicht bereits vorhandene kunsthistorische Narrative, sondern bringen selbst Vorschläge zu ihrer adäquaten Einordnung hervor – und weisen andere zurück. Geschichtsschreibung ist folglich nicht der einzige epistemologische Zugang zu (Kunst-)Geschichte und nicht die einzige Möglichkeit zu deren aktiver Gestaltung: In der Malerei selbst gibt es ein analoges Phänomen, das hier für die Zeit um 1800 erstmals umfassend nachgezeichnet wird.
Verlag Wilhelm Fink 2020
ISBN: 978-3-7705-6453-8
Daniela Ortiz dos Santos, Charlotte Malterre-Barthes, Torsten Lange und Gabrielle Schaad (Hg.):
Diese Ausgabe beinhaltet keine abschließende Bestandsaufnahme der unzähligen Möglichkeiten, wie feministische Praxen eine bessere Zukunft gestalten oder zumindest aufscheinen lassen. Aus den vorgestellten geschriebenen, gesprochenen, gezeichneten, collagierten, kodierten, zusammengenähten, gelebten und gebauten Arbeiten entsteht ein großzügiger, hoffnungsvoller und zusammengesetzter Korpus von Möglichkeiten zur Transformation aktueller Bedingungen. Die Beiträge zeigen, was sich ändern muss und kann, damit Architektur und Planung angesichts der anhaltenden sozialen und ökologischen Krise relevant bleiben. Konstellationen queerer, antirassistischer, antikolonialer, solidarischer, intersektionaler und ökofeministischer Akteur*innen brechen mit den gegenwärtigen profitorientierten, zerstörerischen und extraktivistischen Operationsmodi der Architektur und Bauindustrie. Sie entpatriarchalisieren, dekolonisieren und dekarbonisieren den Berufsstand. Sie bringen die widerständigen und emanzipierten Raumpraxen hervor, die wir heute und morgen dringend brauchen. Früheren sowie aktuellen Formen feministischen Engagements verpflichtet, entwirft die hier vorgestellte unbeständige Ansammlung technisch versierter Aktivist*innen und politisierter Student*innen, queerer Denker*innen, intersektionaler Historiker*innen und kritischer Theoretiker*innen, engagierter Designer*innen, radikaler Archivar*innen, kompromissloser Pädagog*innen, Design-Kooperativen, Reparatur-Kollektiven und risikofreudiger Raumpraktiker*innen Wege aus der Krise hin zu einer wirklich nachhaltigen Zukunft, die tief in der Gleichstellung der Geschlechter sowie der sozialen und räumlichen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Höchste Zeit für die Architektur, Bilanz zu ziehen und sich diesem Diskurs zu öffnen!
Redaktionsorganisation: Melissa Koch und Anh-Linh Ngo
Mehr Informationen: https://archplus.net
Mechthild Fend:
Sage Journals, 17.1.2022
Online abrufbar unter: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1357034X211036488
Moulages are contact media – images made by contagion in the most literal sense: their production relies on a process in which the object to be reproduced is touched by the reproducing material. In the case of dermatological moulages, the plaster touches the infected skin of the sick and, once dried, serves as the negative form for the waxen image of a disease. Focussing on the collection of the Hôpital Saint-Louis in Paris, the article situates the production of dermatological moulages within the visual culture of 19th-century medicine and raises the question how an ancient technique of image production could become such a prevalent tool for the documentation of skin diseases during a period usually associated with the rise of scientific medicine and a reconsideration of theories of contagion in medical aetiology.
Markus Dauss:
Der Text fokussiert die Architektur in der französischen Hauptstadt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Zentral ist dabei die Frage, inwieweit die Frage nationaler Repräsentation bestimmend für das Bauen in Paris war. Die Dritte Republik (1870‒1940) hatte zur (öffentlichen) Architektur – oder zumindest zu ihrer zentralen staatlichen Steuerung ‒ eigentlich ein ambivalentes Verhältnis, setzte eher punktuelle Akzente. Diese konnten allerdings herausragend sein; viele gelten bis heute, selbst wenn sie anfangs umstritten waren, als Repräsentanten der ‚Grande Nation' und ihrer Kapitale, so an allererster Stelle etwa der Eiffelturm von 1889.
(In: Kunstgeschichte, Open Peer Review Journal: https://www.kunstgeschichte-ejournal.net/588/)
Vortrag auf You Tube: https://www.youtube.com/watch?v=FH9Lv9nDUb8
Matthias Krüger, Léa Kuhn und Ulrich Pfisterer (Hg.)
Wer PRO DOMO redet, spricht ›für das eigene Haus‹, das heißt in eigener Sache. Auf welche Weise Vertraute von Künstler:innen aktiv und nachhaltig Kunstgeschichte gestalten, untersucht dieser Band.
Aus dem direkten Umfeld von Künstler:innen versuchen sich immer wieder Personen an einer PRO DOMO-Kunstgeschichte: im Medium des Textes, der Fotoreportage, des Films oder des Digitalen. Solche Formen einer oft dezidiert parteiischen Kunstgeschichtsschreibung werden hier erstmals umfassend analysiert. Den Ausgangspunktbilden Schriften, die meist im unmittelbaren Umfeld von Künstler:innen – zuweilen auch in direkter Kooperation – entstanden sind und die somit gleichsam für diese das Wort ergreifen. Thematisch spannt das Buch einen Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart und fragt auch danach, was dieses PRO DOMO-Prinzip für die Kunstgeschichte insgesamt bedeutet und wie heute mit einer solchen Involvierung umzugehen ist.
Mit Beiträgen u.a. von Fiona Geuß, Heike Gfrereis, Christina Lehnert, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und Philippe Pirotte.
Demnächst als Taschenbuch erhältlich:
Mehr als ein Haus! Marcel Breuer in Wiesbaden
von Carsten Ruhl (Herausgeber, Autor), Chris Dähne (Herausgeber, Autor), Matthias Brunner (Autor), hla.studio (Designer), Center for Critical Studies in Architecture CCSA (Series Editor)
Nachruf
Mit dem Tod von PD Dr. Gerlinde Gehrig im Januar 2021 hat die Kunstwissenschaft eine außergewöhnliche Vertreterin verloren, deren zupackende Urteilskraft den ehemaligen Mitgliedern des Frankfurter Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“ in guter Erinnerung sein wird. Der quellenkritischen historischen Arbeit und der induktiven Auseinandersetzung mit den Originalen war sie ebenso verpflichtet wie dem Dialog zwischen Kunstgeschichte und Psychoanalyse, den sie mit wesentlichen theoretischen Beiträgen und praktischen Anwendungsbeispielen bereichert hat. Dieses Wirken reicht weit über das von Klaus Herding begründete Graduiertenkolleg (1997-2004) hinaus, an dem sie als Doktorandin und Postdoktorandin beteiligt war. Anhand ihres Dissertationsthemas entwickelte sie aus ihrem Verständnis der psychoanalytischen Konzepte Melanie Kleins eine Methode des szenischen Verstehens, die eine Annäherung an die Phantasmen im Werk Alfred Kubins ermöglichte. Gleichwohl traumatische Kindheitserlebnisse in Werken Kubins verarbeitet werden, erkannte Gehrig in der im Anschluss an den Leonardo-Aufsatz von Sigmund Freud entstandenen Psychobiographik keine tragfähige Methode. Dass eine psychoanalytisch reflektierte Deutung weder Kontextwissen noch die Eigenlogik künstlerischer Werke ausblenden darf, unterstrich sie in späteren Beiträgen, die Zusammenhänge mit kulturellen Vorstellungsbildern wie dem des Totentanzes sowie Kubins offensive Selbstdarstellung als „Skandalautor“ für differenziertere Interpretationen heranziehen.
Zugleich bedachte sie die intermediale Dimension von Texten und Bildern, die im Zusammenhang der Illustrationen zu Hofmanns „Sandmann“ dichte Lektüren der Texte von Freud und Hofmann bedingen. Vorgeführt wird dies in ihrem Beitrag zum Tagungsband „Orte des Unheimlichen“, für den sie als Mitherausgeberin fungierte. Nach Ende des Graduiertenkollegs hat Gehrig die von Falk Berger am SFI initiierte Konzeption und Publikation des „Handbuchs Psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft“ entscheidend vorangetrieben; vor allem ihrer Beharrlichkeit ist das Gelingen dieses Vorhabens zu verdanken. Das Anliegen, durch produktive Re-Lektüren Freuds ein psychoanalytisches Verständnis des Bildes zu entwickeln, das für die heutige Kunstgeschichte anschlussfähig ist, kommt in ihren eigenen Beiträgen mustergültig zum Ausdruck. Eine weitere Forschungslinie des Graduiertenkollegs, die Emotionsforschung, versah Gehrig mit einem deutlich feministischen Akzent und verwies damit nicht nur auf Desiderate dieses Projekts, sondern auch auf blinde Stellen des zeitgenössischen Kunstdiskurses. Ihr im Band „Die Ästhetik affektiver Grenzerfahrungen“ veröffentlichter Vortrag zum „Gefühl der Scham in den Körper-Inszenierungen von Vanessa Beecroft“ regte denn auch bei der Heidelberger Tagung eine lebhafte Diskussion an. Zu Zeiten des Graduiertenkollegs hatte sie in ihrem Beitrag zum Tagungsband „Modelle künstlerischer Produktion“ in einer Arbeit Jeff Walls eine angstbesetzte Nahtstelle zwischen schlichter Realität und Imagination aufgedeckt.
In ihrer unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift „Schicksale des Affektiven bei Sigmund Freud und Jeff Wall“ verwirklichte sie das von Ilse Grubrich-Simitis geforderte „Zurück zu Freuds Texten“, indem sie zwischen Theorietexten und Fotokunst Jeff Walls eine diskursive Konstellation aufspürte, die es entlang der offenkundigen, sowie der über Benjamin und Barthes vermittelten indirekten Freud-Lektüren Walls fruchtbar zu machen galt. Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ identifizierte sie als ein Subtext dieser Beiträge und führte aus: „Auch Wall bezieht sich (…) auf Freuds Unheimliches. Hier [in Dan Grahams ‚Glashaus', U.P.] ist der Kontext die gläserne Herrschaftsarchitektur der Moderne, in welcher autoritäre Führergestalten ein unheimliches Blick-Regime installieren. Eine verwandte Thematik zeigt sich auch in ‚A Ventriloquist at a Birthday Party in October 1947': ein Diskurs über väterliche/männliche Macht, Täuschung und visuelle Repräsentation.“ Gehrig zufolge ermöglichen es Freuds vom Subjekt ausgehenden Vorstellungen weit besser als Lacansche und Deleuzesche Begrifflichkeiten, die in Walls Texten und Fotografien am Werk befindlichen Vorstellungen von Affekt zu erfassen und zu deuten. „Sein Interesse gilt dem Ausdruckspotential der menschlichen Gestalt, wie es sich als Ergebnis sozialer und politischer Machtverhältnisse zeigt.“ Dies nachzuweisen, gelingt ihr anhand der von Wall theoretisch konzeptualisierten und in seinem künstlerischen Werk implizierten „Mikrogestik“. In den Kapiteln zu Walls Arbeiten „Odradek“ und „A Ventroloquist“ wird exemplarisch deutlich, was Herding als durchgängige Qualität hervorhob: „Systematisch begibt sich [Gehrig] auf die Suche nach beunruhigenden Elementen.“
Seit 2010 lehrte Gehrig als Privatdozentin am Kunstgeschichtlichen Institut und führte dabei ihre Seminarkreise zu den Originalen in ihrer Heimatstadt Darmstadt. Ihre Tätigkeit in der Lehre und Vermittlung motivierte in den letzten Jahren eine verstärkte Zuwendung zur lokalen und regionalen Kunstgeschichte, auf deren Verknüpfung mit zentralen Ereignissen der Moderne – so Kubins Entdeckung der Sammlung Prinzhorn – sie in Aufsätzen hinwies. In einer Reihe jüngerer Publikationen zur Planung und kunstgeschichtlichen Einordnung des Darmstädter Paulusviertels nahm sie eine entschiedene Neubewertung des Heimatstils im Städtebau um 1900 vor, die aus konkreten Analysen von Werken Friedrich Pützers heraus argumentiert. Das lange im Schatten des Jugendstils der Mathildenhöhe stehende, einst aber überregional bekannte Paulusviertel und das Werk Pützers wollte sie im Zuge einer Rehabilitierung der Reformarchitektur wieder ins Licht rücken. Bei der Tagung „Recoding the City“ an der ETH Zürich betrachtete sie die von den Planungsprinzipien Camillo Sittes ausgehende Umgestaltung Darmstadts in der Ära des Großherzogs Ernst Ludwig in ihrer Gesamtheit und hob gegenüber den Verlusten durch die „Haussmannisierung“ die Ausrichtung auf die Lebensqualität der Bewohner hervor. Auch die FAZ erkannte 2015 in Gehrigs Aufarbeitung, die überraschende Parallelen zwischen Paulusviertel und Mathildenhöhe zog, „hochaktuelle Thesen“ zur Welterbe-Bewerbung. Vor dem Hintergrund der rezenten Ernennung der Mathildenhöhe zur UNESCO Welterbe-Stätte wäre ein solcher, an das Unbewusste einer Stadt rührender Geist weiterhin vonnöten; die Forschung muss auf einen unbestechlichen Blick verzichten.
(Ulrich Pfarr, November 2021)
Ringvorlesung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dienstags 18:00-20:00
Campus Westend, Theodor-Adorno-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, Hörsaalzentrum HZ 3
Organisiert von Prof.'in Dr. Mechthild Fend Dr. Mechthild Fend und Dr. Ulrike Kern
Die Vorlesungsreihe stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kunstgeschichte und der Wissens- und Industriegeschichte der Farbe. Von besonderem Interesse ist dabei die Farbproduktion in der ehemaligen IG Farben (im Volksmund auch ‚Rotfabrik' genannt), in deren Verwaltungsgebäude heute Teile der Goethe-Universität untergebracht sind. Die Höchst-AG spezialisierte sich auf die Entwicklung und Herstellung synthetischer Farben und produzierte als erste chemische Fabrik künstliches Indigo. Die Ringvorlesung knüpft an die jüngste Forschung an, die sich neben der sich wandelnden Semantik der Farbe verstärkt auch dem historischen Farbwissen sowie der materiellen Kultur von Pigmenten und natürlichen wie synthetischen Färbemitteln zugewandt hat. Außerdem fragt die Vorlesungsreihe nach dem Verhältnis von Körper und Farbe, insbesondere der Verschränkung von künstlerischem und naturgeschichtlichem Wissen von der Hautfarbe.
26.04.2022 | Esther Leslie, Birkbeck College London Red Green Blue: IG Farben's Chemical Colours and the Contamination of Everything | ||
3.05.2022 | Giulia Simonini und Friedrich Steinle, TU Berlin Farbtheorien des 18. Jahrhunderts und die Grundfarbe Rot in der Dreifarbenlehre | ||
10.05.2022 | Ad Stijnman, Amsterdam Wahre Farben: Jacob Christoff Le Blon und Jan L'Admiral – technische Aspekte des Dreifarbendrucks | ||
24.05.2022 | Melissa Hyde, University of Florida, Gainesville Men in Pink | ||
31.05.2022 | Karin Leonhard, Universität Konstanz Die Erweiterung der Palette. Künstler im Labor 1580-1680 | ||
14.06.2022 | Kirsty Sinclair Dootson, University of St Andrews Skin, Colour, and Sensitivity: The Racial Histories of Chromatic Cinema | ||
28.06.2022 | Carole Biggam, University of Glasgow Blue in Early English: A Most Elusive Concept | ||
12.07.2022 | Ben Pollitt, The Courtauld Institute, London Colour, Climate, Weather (1770-1870) |
Entworfene Ordnungen
Designed Orders
The architectural design process aims to create new orders and at the same time is, itself, structured by its practical, technical, social, and legal frameworks. The lecture series in the 2022/2023 summer and winter semester traces this double relation. Each design imagines the future and represents an attempt to create a new spatial – and thus always social – order. This projective access to the unknown and unthought places planning conventions, construction standards, legal requirements and established architectural, urbanistic and social ideas in relation to each other rethinks them, and makes them dynamic. The lecture series asks how design structures the interaction of these different and heterogeneous factors and what roles the conditions, norms, and tools of design play. While the series of lectures in the summer semester explores the question of how order comes about in the design process, the second half of the year examines the interrelationship between design processes and their specific design objects.
The lecture series will take place in the summer semester in hybrid mode (presence and via Zoom) on the Westend campus of Goethe University Frankfurt.
Die Veranstaltungsreihe findet im Sommersemester im Hybridmodus (Präsenz und via Zoom) auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt an folgenden Terminen statt:
21.04.22, 18:00 s.t.
CLAUDIA MAREIS (Humboldt-Universität Berlin)
»Kombinatorische Kreativität: Entwerfen und Erfinden zwischen Ordnung und Kontingenz«
05.05.22, 18:00 s.t.
LIONEL DEVLIEGER (Ghent University, RotorDC)
»Assembling Fragments: Designing with Salvaged Building Components«
02.06.22, 18:00 s.t.
NATHALIE BREDELLA (Karlsruher Institut für Technologie) mit NICK FÖRSTER (Technische Universität München) und BENJAMIN BEIL (Universität Köln)
»Tools of Play: Planungsstrategien der Metastadt«
07.07.22, 18:00 s.t.
HAUKE HORN (Universität Mainz)
»Eine Frage des Geldes? Immobilienwirtschaft und Kommunalpolitik als ordnende Kräfte bei Planung und Bau von Bankhochhäusern in Frankfurt a. M.«
>Ausnahme: Der Vortrag am 07.07. findet im ExNo-Gebäude, Raum EG.01 statt.
Semesterschwerpunkt im Sommersemester 2022
Semesterschwerpunkt im Wintersemester 2021/2022
Lesekreis - Fachbereich 09 - Kunstgeschichtliches Institut
Ausgangspunkt der diesjährigen documenta ist das Konzept von lumbung. Das Kollektiv ruangrupa bezieht sich dabei auf den aus dem Indonesischen übersetzten Begriff „Reisescheune“, welche in ländlichen Gebieten Indonesiens gemeinschaftlich genutzt werden, um nachhaltig Ernte zusammenzutragen, zu lagern und zu verteilt. Dabei stehen Fragen nach sozialer Teilhabe, Verteilungsprozessen von Ressourcen, Wissen und Nachhaltigkeit im Vordergrund.
In diesem Lesekreis möchten wir uns mit dem Trend der Kollektiven und des gemeinschaftlichen Arbeitens in zeitgenössischen Kunstdiskursen auseinadersetzten. Zunächst sollen historische Kontexte gemeinschaftlichen Arbeitens in der Kunst besprochen werden. Bereits die Kunstproduktion der 1960er Jahre bietet durch das Aufkommen feministischer Künstler*innenkollektive und anti-rassistisch aktivistischen und künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum einen Ausgangspunkte dafür. Daraufhin diskutieren wir aktuelle theoretische Positionen und nähern uns dem Themenfeld aus postkolonialen, feministischen sowie queeren Perspektiven. Dies soll als Grundlage dienen, um in einem letzten Schritt konkrete zeitgenössische künstlerische Positionen näher zu betrachten.p>Neben kunsthistorische Texte, wie etwa Nicolas Bourriauds Begriff der Relationalen Ästhetik, werden auch Referenzen aus der Soziologie, Philosophie und den Queer- sowie Postcolonial-Studies herangezogen. Darunter Judith Butlers Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung oder Silvia Federicis Auseinandersetzung mit den Commons.
Die konkrete Literaturliste soll gemeinsam in der Gruppe gestaltet werden. Der Lesekreis wird zweiwöchentlich (voraussichtlich in Präsenz) stattfinden.
Kennenlernrunde: Mi, 20.04., 16:00 - 17:30 Uhr
Ort: Wird noch bekannt gegeben
Kontakt: radiasoukni@stud.uni-frankfurt.de
Léa Kuhn
Kunstgeschichte wird nicht nur geschrieben, sie wird auch gemalt. Dass auch innerhalb der Malerei vermehrt kunsthistorische Ordnungsmodelle entwickelt werden, sobald sich die Kunstgeschichte als akademische Disziplin zu etablieren beginnt, zeigt diese Studie.
Mit Blick auf die Zeit um 1800 rekonstruiert die Autorin das feine Bezugsgeflecht zwischen entstehendem Kunstgeschichtsdiskurs und zeitgenössischer künstlerischer Praxis an so unterschiedlichen Orten wie Zürich, Paris, London und New York. Dabei wird deutlich: Die hier analysierten Werke von Marie-Gabrielle Capet, William Dunlap und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein illustrieren nicht bereits vorhandene kunsthistorische Narrative, sondern bringen selbst Vorschläge zu ihrer adäquaten Einordnung hervor – und weisen andere zurück. Geschichtsschreibung ist folglich nicht der einzige epistemologische Zugang zu (Kunst-)Geschichte und nicht die einzige Möglichkeit zu deren aktiver Gestaltung: In der Malerei selbst gibt es ein analoges Phänomen, das hier für die Zeit um 1800 erstmals umfassend nachgezeichnet wird.
Verlag Wilhelm Fink 2020
ISBN: 978-3-7705-6453-8
Daniela Ortiz dos Santos, Charlotte Malterre-Barthes, Torsten Lange und Gabrielle Schaad (Hg.):
Diese Ausgabe beinhaltet keine abschließende Bestandsaufnahme der unzähligen Möglichkeiten, wie feministische Praxen eine bessere Zukunft gestalten oder zumindest aufscheinen lassen. Aus den vorgestellten geschriebenen, gesprochenen, gezeichneten, collagierten, kodierten, zusammengenähten, gelebten und gebauten Arbeiten entsteht ein großzügiger, hoffnungsvoller und zusammengesetzter Korpus von Möglichkeiten zur Transformation aktueller Bedingungen. Die Beiträge zeigen, was sich ändern muss und kann, damit Architektur und Planung angesichts der anhaltenden sozialen und ökologischen Krise relevant bleiben. Konstellationen queerer, antirassistischer, antikolonialer, solidarischer, intersektionaler und ökofeministischer Akteur*innen brechen mit den gegenwärtigen profitorientierten, zerstörerischen und extraktivistischen Operationsmodi der Architektur und Bauindustrie. Sie entpatriarchalisieren, dekolonisieren und dekarbonisieren den Berufsstand. Sie bringen die widerständigen und emanzipierten Raumpraxen hervor, die wir heute und morgen dringend brauchen. Früheren sowie aktuellen Formen feministischen Engagements verpflichtet, entwirft die hier vorgestellte unbeständige Ansammlung technisch versierter Aktivist*innen und politisierter Student*innen, queerer Denker*innen, intersektionaler Historiker*innen und kritischer Theoretiker*innen, engagierter Designer*innen, radikaler Archivar*innen, kompromissloser Pädagog*innen, Design-Kooperativen, Reparatur-Kollektiven und risikofreudiger Raumpraktiker*innen Wege aus der Krise hin zu einer wirklich nachhaltigen Zukunft, die tief in der Gleichstellung der Geschlechter sowie der sozialen und räumlichen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Höchste Zeit für die Architektur, Bilanz zu ziehen und sich diesem Diskurs zu öffnen!
Redaktionsorganisation: Melissa Koch und Anh-Linh Ngo
Mehr Informationen: https://archplus.net
Mechthild Fend:
Sage Journals, 17.1.2022
Online abrufbar unter: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1357034X211036488
Moulages are contact media – images made by contagion in the most literal sense: their production relies on a process in which the object to be reproduced is touched by the reproducing material. In the case of dermatological moulages, the plaster touches the infected skin of the sick and, once dried, serves as the negative form for the waxen image of a disease. Focussing on the collection of the Hôpital Saint-Louis in Paris, the article situates the production of dermatological moulages within the visual culture of 19th-century medicine and raises the question how an ancient technique of image production could become such a prevalent tool for the documentation of skin diseases during a period usually associated with the rise of scientific medicine and a reconsideration of theories of contagion in medical aetiology.
Markus Dauss:
Der Text fokussiert die Architektur in der französischen Hauptstadt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Zentral ist dabei die Frage, inwieweit die Frage nationaler Repräsentation bestimmend für das Bauen in Paris war. Die Dritte Republik (1870‒1940) hatte zur (öffentlichen) Architektur – oder zumindest zu ihrer zentralen staatlichen Steuerung ‒ eigentlich ein ambivalentes Verhältnis, setzte eher punktuelle Akzente. Diese konnten allerdings herausragend sein; viele gelten bis heute, selbst wenn sie anfangs umstritten waren, als Repräsentanten der ‚Grande Nation' und ihrer Kapitale, so an allererster Stelle etwa der Eiffelturm von 1889.
(In: Kunstgeschichte, Open Peer Review Journal: https://www.kunstgeschichte-ejournal.net/588/)
Vortrag auf You Tube: https://www.youtube.com/watch?v=FH9Lv9nDUb8
Matthias Krüger, Léa Kuhn und Ulrich Pfisterer (Hg.)
Wer PRO DOMO redet, spricht ›für das eigene Haus‹, das heißt in eigener Sache. Auf welche Weise Vertraute von Künstler:innen aktiv und nachhaltig Kunstgeschichte gestalten, untersucht dieser Band.
Aus dem direkten Umfeld von Künstler:innen versuchen sich immer wieder Personen an einer PRO DOMO-Kunstgeschichte: im Medium des Textes, der Fotoreportage, des Films oder des Digitalen. Solche Formen einer oft dezidiert parteiischen Kunstgeschichtsschreibung werden hier erstmals umfassend analysiert. Den Ausgangspunktbilden Schriften, die meist im unmittelbaren Umfeld von Künstler:innen – zuweilen auch in direkter Kooperation – entstanden sind und die somit gleichsam für diese das Wort ergreifen. Thematisch spannt das Buch einen Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart und fragt auch danach, was dieses PRO DOMO-Prinzip für die Kunstgeschichte insgesamt bedeutet und wie heute mit einer solchen Involvierung umzugehen ist.
Mit Beiträgen u.a. von Fiona Geuß, Heike Gfrereis, Christina Lehnert, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und Philippe Pirotte.
Demnächst als Taschenbuch erhältlich:
Mehr als ein Haus! Marcel Breuer in Wiesbaden
von Carsten Ruhl (Herausgeber, Autor), Chris Dähne (Herausgeber, Autor), Matthias Brunner (Autor), hla.studio (Designer), Center for Critical Studies in Architecture CCSA (Series Editor)
Nachruf
Mit dem Tod von PD Dr. Gerlinde Gehrig im Januar 2021 hat die Kunstwissenschaft eine außergewöhnliche Vertreterin verloren, deren zupackende Urteilskraft den ehemaligen Mitgliedern des Frankfurter Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“ in guter Erinnerung sein wird. Der quellenkritischen historischen Arbeit und der induktiven Auseinandersetzung mit den Originalen war sie ebenso verpflichtet wie dem Dialog zwischen Kunstgeschichte und Psychoanalyse, den sie mit wesentlichen theoretischen Beiträgen und praktischen Anwendungsbeispielen bereichert hat. Dieses Wirken reicht weit über das von Klaus Herding begründete Graduiertenkolleg (1997-2004) hinaus, an dem sie als Doktorandin und Postdoktorandin beteiligt war. Anhand ihres Dissertationsthemas entwickelte sie aus ihrem Verständnis der psychoanalytischen Konzepte Melanie Kleins eine Methode des szenischen Verstehens, die eine Annäherung an die Phantasmen im Werk Alfred Kubins ermöglichte. Gleichwohl traumatische Kindheitserlebnisse in Werken Kubins verarbeitet werden, erkannte Gehrig in der im Anschluss an den Leonardo-Aufsatz von Sigmund Freud entstandenen Psychobiographik keine tragfähige Methode. Dass eine psychoanalytisch reflektierte Deutung weder Kontextwissen noch die Eigenlogik künstlerischer Werke ausblenden darf, unterstrich sie in späteren Beiträgen, die Zusammenhänge mit kulturellen Vorstellungsbildern wie dem des Totentanzes sowie Kubins offensive Selbstdarstellung als „Skandalautor“ für differenziertere Interpretationen heranziehen.
Zugleich bedachte sie die intermediale Dimension von Texten und Bildern, die im Zusammenhang der Illustrationen zu Hofmanns „Sandmann“ dichte Lektüren der Texte von Freud und Hofmann bedingen. Vorgeführt wird dies in ihrem Beitrag zum Tagungsband „Orte des Unheimlichen“, für den sie als Mitherausgeberin fungierte. Nach Ende des Graduiertenkollegs hat Gehrig die von Falk Berger am SFI initiierte Konzeption und Publikation des „Handbuchs Psychoanalytischer Begriffe für die Kunstwissenschaft“ entscheidend vorangetrieben; vor allem ihrer Beharrlichkeit ist das Gelingen dieses Vorhabens zu verdanken. Das Anliegen, durch produktive Re-Lektüren Freuds ein psychoanalytisches Verständnis des Bildes zu entwickeln, das für die heutige Kunstgeschichte anschlussfähig ist, kommt in ihren eigenen Beiträgen mustergültig zum Ausdruck. Eine weitere Forschungslinie des Graduiertenkollegs, die Emotionsforschung, versah Gehrig mit einem deutlich feministischen Akzent und verwies damit nicht nur auf Desiderate dieses Projekts, sondern auch auf blinde Stellen des zeitgenössischen Kunstdiskurses. Ihr im Band „Die Ästhetik affektiver Grenzerfahrungen“ veröffentlichter Vortrag zum „Gefühl der Scham in den Körper-Inszenierungen von Vanessa Beecroft“ regte denn auch bei der Heidelberger Tagung eine lebhafte Diskussion an. Zu Zeiten des Graduiertenkollegs hatte sie in ihrem Beitrag zum Tagungsband „Modelle künstlerischer Produktion“ in einer Arbeit Jeff Walls eine angstbesetzte Nahtstelle zwischen schlichter Realität und Imagination aufgedeckt.
In ihrer unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift „Schicksale des Affektiven bei Sigmund Freud und Jeff Wall“ verwirklichte sie das von Ilse Grubrich-Simitis geforderte „Zurück zu Freuds Texten“, indem sie zwischen Theorietexten und Fotokunst Jeff Walls eine diskursive Konstellation aufspürte, die es entlang der offenkundigen, sowie der über Benjamin und Barthes vermittelten indirekten Freud-Lektüren Walls fruchtbar zu machen galt. Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ identifizierte sie als ein Subtext dieser Beiträge und führte aus: „Auch Wall bezieht sich (…) auf Freuds Unheimliches. Hier [in Dan Grahams ‚Glashaus', U.P.] ist der Kontext die gläserne Herrschaftsarchitektur der Moderne, in welcher autoritäre Führergestalten ein unheimliches Blick-Regime installieren. Eine verwandte Thematik zeigt sich auch in ‚A Ventriloquist at a Birthday Party in October 1947': ein Diskurs über väterliche/männliche Macht, Täuschung und visuelle Repräsentation.“ Gehrig zufolge ermöglichen es Freuds vom Subjekt ausgehenden Vorstellungen weit besser als Lacansche und Deleuzesche Begrifflichkeiten, die in Walls Texten und Fotografien am Werk befindlichen Vorstellungen von Affekt zu erfassen und zu deuten. „Sein Interesse gilt dem Ausdruckspotential der menschlichen Gestalt, wie es sich als Ergebnis sozialer und politischer Machtverhältnisse zeigt.“ Dies nachzuweisen, gelingt ihr anhand der von Wall theoretisch konzeptualisierten und in seinem künstlerischen Werk implizierten „Mikrogestik“. In den Kapiteln zu Walls Arbeiten „Odradek“ und „A Ventroloquist“ wird exemplarisch deutlich, was Herding als durchgängige Qualität hervorhob: „Systematisch begibt sich [Gehrig] auf die Suche nach beunruhigenden Elementen.“
Seit 2010 lehrte Gehrig als Privatdozentin am Kunstgeschichtlichen Institut und führte dabei ihre Seminarkreise zu den Originalen in ihrer Heimatstadt Darmstadt. Ihre Tätigkeit in der Lehre und Vermittlung motivierte in den letzten Jahren eine verstärkte Zuwendung zur lokalen und regionalen Kunstgeschichte, auf deren Verknüpfung mit zentralen Ereignissen der Moderne – so Kubins Entdeckung der Sammlung Prinzhorn – sie in Aufsätzen hinwies. In einer Reihe jüngerer Publikationen zur Planung und kunstgeschichtlichen Einordnung des Darmstädter Paulusviertels nahm sie eine entschiedene Neubewertung des Heimatstils im Städtebau um 1900 vor, die aus konkreten Analysen von Werken Friedrich Pützers heraus argumentiert. Das lange im Schatten des Jugendstils der Mathildenhöhe stehende, einst aber überregional bekannte Paulusviertel und das Werk Pützers wollte sie im Zuge einer Rehabilitierung der Reformarchitektur wieder ins Licht rücken. Bei der Tagung „Recoding the City“ an der ETH Zürich betrachtete sie die von den Planungsprinzipien Camillo Sittes ausgehende Umgestaltung Darmstadts in der Ära des Großherzogs Ernst Ludwig in ihrer Gesamtheit und hob gegenüber den Verlusten durch die „Haussmannisierung“ die Ausrichtung auf die Lebensqualität der Bewohner hervor. Auch die FAZ erkannte 2015 in Gehrigs Aufarbeitung, die überraschende Parallelen zwischen Paulusviertel und Mathildenhöhe zog, „hochaktuelle Thesen“ zur Welterbe-Bewerbung. Vor dem Hintergrund der rezenten Ernennung der Mathildenhöhe zur UNESCO Welterbe-Stätte wäre ein solcher, an das Unbewusste einer Stadt rührender Geist weiterhin vonnöten; die Forschung muss auf einen unbestechlichen Blick verzichten.
(Ulrich Pfarr, November 2021)